Wolfhagener Str. 3: Leseprobe

Aus dem Kapitel »Ingolf«

Er konnte penetrant sein. Quasselte den ganzen Tag, fragte einem Löcher in den Bauch, erzählte permanent irgendwelche für seinen kindlichen Geschmack amüsante und spannende Geschichten, mit denen er sich Aufmerksamkeit zu erzwingen suchte.

Wenn es unserer Mutter zu arg wurde, pflegte sie zu sagen: »Wenn du jetzt nicht endlich Ruhe gibst, dann bringen wir dich für eine Weile ins Waisenhaus.«

Es half kurzfristig.

Eines Tages war Muttern wieder einmal ziemlich genervt. Sie hängte Wäsche im Speicher auf. Ingolf nahm trotz mehrmaliger Warnung einige Wäscheteile aus dem Korb, ließ etwas fallen, verstreute Klammern, bis Mami ihn unsanft vom Ort des Geschehens wegschubste, mit einem Klaps auf den Po.

»So, nun bleibst du bitte endlich in der Küche, bis ich zurück bin«

Die Wäsche hing, Mami kam zurück, und Ingolf saß ruhig im Kinderzimmer. Er hatte Evis geöffnetes Puppenköfferchen vor sich liegen. Darin befand sich bereits seine Zahnbürste und ein Schlafanzug.

»Was machst du denn da« wollte Mami wissen.

»Ich packe, und dann gehe ich ins Waisenhaus, wenn du so garstig zu mir bist,« war seine lakonische Antwort.

Mami ließ ihn gewähren und beobachtete ihn. Viel geht in solch ein kleines Köfferchen ja nicht hinein, der Schlafanzug hatte es schon fast gefüllt, aber sein Lieblingsteddy musste unbedingt noch mit.

Dann marschierte er erhobenen Hauptes und ohne Gruß die Treppe hinunter, ging aus dem Haus, hielt sich rechts Richtung Krankenhaus - und weiter Richtung »Oppa Teschner«. Mami beobachtete ihn aus dem Fenster und benachrichtigte unseren Vater unten in der Werkstatt, er solle doch dem Kind folgen und es vorsichtig umstimmen. Unsere Mutter fand es taktisch unklug, wenn sie selber versucht hätte den Knirps zum Bleiben zu bewegen.

Papi sah das Kerlchen alleine aus dem Dorf hinaus marschieren, mit dem Köfferchen in der Hand. Er tat als käme er zufällig des Weges.

Scheinbar verwundert fragte er: »Ingolf, was machst du denn hier draußen mit dem Köfferchen?«

»Ich gehe ins Waisenhaus, weil die Mami gar nicht lieb zu mir ist«

»Weißt du denn wo das Waisenhaus ist?

»Ich werde es schon finden«!

»Aber Tünnes, was soll ich denn ohne dich machen? Du bist doch mein Kapitän, ich brauche dich doch«, gab Vatern zu bedenken.

Ingolf blieb stehen, überlegte eine Weile angestrengt und lenkte dann ein:

»Also gut, wenn ihr immer lieb zu mir seid, dann komme ich zurück. Aber du kannst der Mami ruhig sagen, dass sie mich nicht immer so nerven soll!«

Somit war die Waisenhauswarnung wirkungslos geworden. Nun trat vorübergehend wieder das Bockoraule in Erscheinung.